Lesebühne Kreis mit Berg

Nein Opa

Als Opa wird man von seinem Enkelkind ständig gezwungen, etwas Verbotenes zu tun. Es sieht mich listig an, greift mit seinem Händchen nach meinem Zeigefinger und zieht mich hinter sich her. Ich ahne, daß es mal wieder um Beschaffungskriminalität geht, wofür meine Körpergröße und meine großväterliche Nachgiebigkeit sehr geeignet sind. Am Kinderwagen angekommen sagt das Kind „Nucki“. Es weiß, daß die Mama das gar nicht gerne sieht, wenn der Nucki außerhalb von Kinderwagen, Wickelkommode und Bett im Gebrauch ist. Hier kann man als Opa nur verlieren. Entweder verstößt man gegen das Gesetz von Mama oder man sinkt in der Gunst des Enkelkindes. „Aber der Opa darf dir doch den Nucki nicht geben“, flehe ich noch. Das Kind gibt Unmutsbekundungen von sich. Noch kein Weinen, aber fast, und nichts kann das Großvaterherz stärker rühren. Also greife ich in den Kinderwagen und übergebe die Beute dem strahlenden Kind.
War ich eben noch Handlager, bin ich im nächsten Moment schon der Beraubte. Das Kind schüttelt mit dem Kopf und versteckt mein Handy hinter seinem Rücken. Opa hat gar nichts zu wollen. „Darf ich mein Handy wiederhaben“, frage ich trotzdem zaghaft, und es sagt: „Nein Opa!“ Opa muß sich von der kleinbürgerlichen Kategorie, daß das mal seins war, verabschieden. Umgekehrt allerdings wacht das Kind über sein Eigentum wie Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Dickens. Linke wissen, die Polizei ist nur dazu da, um das Eigentum der Bourgeoisie zu bewachen. Wenn sich im Sandkasten ein anderes Kind, vielmehr Sandkastenfeind der Schippe meines Enkelkindes nähert und es wagt, die Besitzverhältnisse in Frage zu stellen, werde ich unversehens zum Büttel des „Schweinesystems“. Das andere Kind geht dabei mit Tücke ans Werk und nähert sich langsam, ganz langsam der Schippe, während es von meinem Enkelkind starr beobachtet wird. Sobald das andere Kind die Schippe mit seiner Hand fast erreicht hat, höre ich ein klägliches „Opa“ von meinem Enkelkind. Opa muß den Besitzstand wahren und nimmt die Schippe an sich, bevor das andere Kind zugreift. Eigentlich kann ich die Empfindungen meines Enkelkindes sehr gut nachvollziehen. Teilen ist nicht schön, das weiß man als Einzelkind. Jede anderslautende Behauptung ist Propaganda von abgefeimten Pädagogen. Warum nur hat meine katholische Freundin bei Tisch die furchtbar schlechte Angewohnheit, anstatt sich ein eigenes Wasserglas zu holen oder mich wenigstens darum zu bitten, ihr ein Wasserglas zu bringen, einfach ungefragt aus meinem Wasserglas zu trinken? Ich möchte jedes Mal am liebsten anfangen zu weinen, und beherrsche mich bloß, weil ich schon 48 Jahre alt bin.  

Aufgrund des zunehmenden Sprachverständnisses werden bestimmte freude- bzw. ärgerauslösende Begriffe in der Gegenwart des Enkelkindes verschlüsselt. „Steckst du bitte die Tüte mit den k-E-k-S ein“ oder „ist noch e-I-s im Kühlfach?“ Sonst würden Bedürfnisse im Kind geweckt, die man nur schwer verweigern kann, wenn man mit Tränen ein Problem hat. Bei dem Wort q-U-e-T-s-C-h-I-e muß der Opa selber scharf überlegen, was damit gemeint sein könnte. „Ach so, ein Quetschie“. Das hätte der Opa jetzt aber nicht laut aussprechen dürfen. Das Kind greift wieder nach meinem Zeigefinger. Es ist förmlich süchtig nach diesem Fruchtmus, das es aus der praktischen Tüte zutschelt, die ich ihm willfährig aus dem obersten Fach herunterreichen mußte. Kürzlich habe ich im ICE von Berlin nach Halle eine junge Frau gesehen, die ebenfalls voller Wohlbehagen ein Quetschie ausgesaugt hat. Ich sah mehrmals hin, um mich zu vergewissern, ob sie nicht doch erst zwei oder drei Jahre alt ist. Aber sie schien mindestens schon Mitte zwanzig zu sein und las ihr Buch weiter, nachdem sie mit ihrem Quetschi fertig war. Ökotest und andere Verbraucherorganisationen warnen vor dem Teufelszeug. Zuviel Zucker, Kariesgefahr, Verpackungsmüll, komplett überteuert, mit Pestiziden verseucht und es gefährde gar die Sprachentwicklung, weil das Kind die für das Sprechen nötige Kaumuskulatur mit Obst in dieser Konsistenz nicht trainiere. Unser Enkelkind wird nuscheln und nicht richtig verstanden werden. Aber es wächst ja in Sachsen auf. Da kommt es sprachlich auf den einen oder anderen Quetschie auch nicht mehr an.
Von einer beeinträchtigten Sprachentwicklung ist beim Kind derzeit noch wenig zu bemerken, die neu entdeckten Worte sprudeln geradezu aus ihm heraus. Kokogil, Chose, Mauf, Nudi. Inzwischen ist es sogar schon bei den Zweiwortsätzen angelangt. Die herzigsten Zweiwortsätze sind die geäußerten Besitzansprüche gegenüber sehr nahestehende Personen: „Meine Mama“, „mein Papa“ und natürlich „meine Oma“, und auch – „mein Opa“. Aber schnell wird aus „mein Opa“ auch wieder der „Nein-Opa“. Darf der Opa dich ins Bett bringen? „Nein Opa“. Darf der Opa ein Bilderbuch angucken? „Nein Opa“. Darf der Opa …, „nein Opa“. Dem Kind macht es richtig Spaß, dem armen Opa alles zu verbieten. Das ist die traurige Geschichte vom Nein-Opa, der so gerne ein Ja-Opa wäre. Er fragt sein Enkelkind, ob er zur Abwechslung auch mal ein Ja-Opa sein darf. „Nein Opa“, sagt das Enkelkind, und was das Enkelkind sagt, das wird vom Opa befolgt. Nein heißt nein. Man kann nicht früh genug anfangen, dem Kind die Gewissheit zu vermitteln, daß es „nein“ sagen darf. Das Wort nein ist ja das wichtigste Wort überhaupt.