Neulich hat man unser Enkelkindchen entführt. Ein großes Auto fuhr heran, dann öffnete sich die Tür und es wurde mitgenommen von Menschen, die, das sollte man vielleicht noch dazu sagen, seine anderen Großeltern waren. Das Enkelkindchen sah nicht einmal unglücklich dabei aus, sondern lachte und freute sich, als ob die anderen Großeltern genauso liebenswert wären wie wir. Und wenn ich ehrlich bin, wozu ich jedoch gerade überhaupt gar keine Lust verspüre, dann sind sie es auch. Es sind sehr freundliche, sympathische Menschen. Hilfsbereit, aufmerksam und großzügig. Ihr einziger, aber dadurch nicht weniger katastrophaler Fehler ist, sie nehmen uns in regelmäßigen Abständen unser Enkelkind weg. Ich hätte vielleicht doch die Polizei benachrichtigen sollen, fürchte aber, daß die Ordnungshüter keinerlei Verständnis für unser Problem aufzubringen bereit wären und womöglich den anderen Großeltern das gleiche Umgangsrecht einräumen wie uns.
Nun habe ich mal im Internet nachgeschaut und festgestellt, wir sind nicht die einzigen mit einem Enkelkindkonkurrenzsyndrom. In der Zeit las ich einen Artikel mit dem Titel Neid unter Großeltern: Wenn Großeltern zu Konkurrenten werden. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Neid der richtige Ausdruck für das berechtigte Unbehagen an dem Umstand ist, daß die anderen Großeltern etwas für sich in Anspruch nehmen, was ihnen aus unserer Sicht gar nicht zusteht. Aber es soll hier nicht um Sprachkritik gehen. Dafür ist das Thema viel zu ernst. Aufgrund der demografischen Situation, daß immer weniger Kinder geboren werden, wird das Enkelkind zur raren Ressource, heißt es in dem Artikel. Um diese seltenen Enkel konkurrieren dann die Großeltern in einem unerbittlichen Verteilungskampf. Auch ein Psychologe kommt in dem Artikel zu Wort, der behauptet: „Am Ende geht es aber nicht um die Bedürfnisse der Großeltern, sondern des Kindes.“ Keine Ahnung, was dieser Typ damit sagen will.
Überhaupt fällt mir auf, daß genau ab dem Zeitpunkt, seit ich ein „Bonusopa“ geworden bin (so wird in dem Zeitartikel der zusätzliche, nichtleibliche Großvater bezeichnet), sehr viele Beiträge zum Thema Großeltern auf meinem Smartphone zu lesen sind. Vorher wurden mir immer nur was über den Ukrainekrieg, Modelleisenbahnen oder die tollsten Erotikstars angezeigt. Jetzt stoße ich auf Artikel wie Großeltern: Eine Liebe von besonderer Kraft. Oder zum Beispiel während des nervig verkündeten Dry-January Alkoholkonsum bei Großeltern: „Muss Mama nüchtern sein, wenn sie das Baby haben will?“ Hat der Alkorithmus bei mir herausgefunden, daß ich in regelmäßigen Abständen große Bestellungen aufgebe bei Jacques Weindepot? Daß man nicht sturzbesoffen sein Enkelkind betreuen sollte, kann selbst ich nachvollziehen. In dem Artikel kommt jedoch ein ziemlich gemeiner Jung-Vater zu Wort, der von seiner Mutter verlangt, komplett nüchtern zu bleiben, wenn sie ihr Enkelkind sehen will. Schon ein halbes Glas Wein sei zu viel, weil der Säugling nicht den Alkoholatem von Oma abkriegen soll. Zum Glück sind die Eltern unseres Enkelkindes nicht so alkoholfeindlich, sonst würden wir es überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Daß die Antialkoholpropaganda bei Zeit-online inzwischen nicht mal mehr vor Großeltern zurückschreckt!
Besser gefiel mir ein Artikel unter der Überschrift Bezahlung für die Großeltern: Nebenjob: Opa. Nicht, daß ich mich durch mein Enkelkindchen bereichern will, aber falls die Eltern unseres Enkelkindes mal sehr viel verdienen sollten irgendwann, bin ich – als Boniopi – gern bereit, ihnen beim Steuersparen behilflich zu sein.
Eigentlich sollten wir für die anderen Großeltern eher Mitleid aufbringen. Neben unserem Enkelkind, das wir uns mit ihnen teilen müssen, haben sie nämlich noch vier weitere Enkelkinder. Bei dieser reproduktionsfreudigen Familie herrscht überhaupt gar keine Enkelkindknappheit. Im Gegenteil. Dort gibt es eine Enkelkindinflation. Auch für diesen Fall gibt es den passenden Artikel in der Zeit mit der Überschrift Omarolle: "Sie sagte: 'Nach drei Enkelkindern ist aber Schluss!'"
Das würden wir, die katholische Oma und der dazugehörige Bonusopa, natürlich niemals sagen. Zumindest noch nicht. Bei mehr als drei Enkeln hilft einem dann vielleicht folgender, in die Überschrift eines Zeit-Online-Artikels gepackte Ratschlag Erziehung: "Großeltern müssen ihre Enkel wie Naturphänomene wahrnehmen". Das bietet natürlich Betrachtungsspielraum. Die einen erblicken einen Sonnenaufgang über einer erhabenen Landschaft und die anderen einen Tornado bei gleichzeitigem Vulkanausbruch, kurz bevor sie von einer alles mit sich reißenden pyroklastischen Enkelwelle erfasst und durch ein Erbeben begraben werden.