Lesebühne Kreis mit Berg

Der telefonische Patient

Neulich hatte ich Corona. Ich begab mich nach einem selbst durchgeführten Schnelltest gleich in die Isolation meines Zimmers, um nicht meine Freundin anzustecken, und blieb dort, bis kein zweiter Strich mehr auf meinem Test zu sehen war. Wenn das mal keine spannende Geschichte ist. Der mittelalte Mann und Corona. Der einsame Kampf seines Immunsystems gegen das Virus. Drei Tage dramatische Körperglut von 38,3 Grad Celsius. Außerdem die Hölle aus Schnupfen, Halskratzen und Husten. Einzig die liebevoll zubereiteten Schnittchen seiner Freundin hielten ihn am Leben. Aber eigentlich interessiert das jetzt niemanden mehr. Sogar meine Eltern hatten schon vor mir Corona. Und meine Eltern sind nicht dafür bekannt, leichtsinnige Partygänger zu sein. Sie sind Rentner und verlassen ihr Eigenheim nur noch, um die Tiefkühltruhe aufzufüllen. Zu Beginn der Pandemie habe ich sie mal draußen, auf ihrem Grundstück, besucht. Ich saß an einem Extratisch, der sechs Meter von dem meiner Eltern entfernt stand. Wenn mein Vater sich meinem Tisch näherte, um mir Kaffee nachzuschenken, zog er sich Gummihandschuhe über und setzte sich eine von den Spezial-Masken auf, die er noch von seiner Arbeit übrig hatte im Serum-Werk Bernburg, für den Fall, daß tödliche Chemikalien austreten. Unter diesen Umständen hätte ich auch problemlos Ebola haben können, ohne meine Eltern zu gefährden. Wenn solche Menschen inzwischen Corona kriegen, dann ist niemand sicher. Die Dunkelziffer dürfte riesig sein.
Ich tauche übrigens nicht mal mehr in einer offiziellen Statistik auf. Diese Kränkung mußte meine Mutter allerdings auch erfahren, als sie Corona hatte. Sie machte einen Schnelltest zu Hause, der eindeutig positiv war, wollte dann aber noch offiziell registriert werden, mit einem PCR-Test. Nach dem Motto, ich bin dabei gewesen. Doch die Sprechstundenhilfe wollte meine Mutter nicht mehr zum Test in die Praxis hineinlassen, weil sie bereits angegeben hatte, daß sie positiv getestet war, und man genügend anderes zu tun hatte, als ihren Fall dem überlasteten Gesundheitsamt weiterzuleiten. Diese offenkundige Nichtachtung regte meine Mutter furchtbar auf. Aber noch mehr meinen Vater, der dann die Sprechstundenhilfe anmeckerte, daß hier schleunigst bitte der Arzt zu erscheinen habe. Es war dieselbe Praxis, bei der mein Vater drei Tage zuvor noch einen PCR-Test machen durfte, der positiv ausfiel, woran sich nun die Sprechstundenhilfe erinnerte und meinem Vater nahelegte, wenn er nicht augenblicklich die Praxis verlasse, um sich in Isolation zu begeben, man die Polizei rufen werde, weil er gegen die Coronaregeln verstoße.
Seitdem erwarte ich eigentlich folgenden Anruf: „Hallo, sind Sie der Sohn?“
„Ja, äh, warum, ist was passiert?“
„Sie können ihre Eltern abholen, Polizeistation Bernburg hier.“
Und ich antworte: „Ach, behalten sie die beiden Racker doch bitte über Nacht dort, Strafe muß sein.“

Für mich als Hypochonder ist es eingestandenermaßen gar nicht so schlecht, mal wieder eine Krankheit zu haben, die ich mir nicht nur einbilde. Auf die Dauer verliert man gegenüber dem medizinischen Personal komplett seine Glaubwürdigkeit, wenn man nicht hin und wieder ein nachprüfbares Krankheitsbild vorzuweisen hat. Meine Hausärztin zum Beispiel hält mich aus unerfindlichen Gründen beinah immer nur für gesund, obwohl ich sie die ganze Zeit vom Gegenteil zu überzeugen versuche. Mit Corona werde ich jetzt ernst genommen. Ich bekam sogar für die ersten Tage Heparin-Spritzen von ihr verschrieben. Es gibt diese eine Szene, in der Rambo nach einer Bauchverletzung seine Wunde mit Nadel und Zwirn selber zunäht, ungefähr so fühlte ich mich, als ich mir die Spritze in mein Bauchfett jagte. Diese Spritzen wollte ich unbedingt, weil ich gehört habe, daß eine Coronainfektion auch Thrombosen auslöst, im schlimmsten Fall sogar eine Lungenembolie oder einen Schlaganfall. Das hat mir meine Mutter am Telefon erzählt, vermutlich, damit ich nicht allzu sorglos im Bett herumliege und denke, mir könne nichts Schlimmes passieren. Schließlich weiß ich jetzt, was mir alles bevorsteht und kann vielleicht noch rechtzeitig Hilfe holen. Wogegen es leider überhaupt keine Hilfe gibt, sind die Anrufe meiner Mutter. Dann wünscht man sich irgendwann doch, daß die Ärzte so gnädig sein mögen, einen ins künstliche Koma zu versetzen. Das wäre erholsam. Man könnte wieder zu Kräften kommen. Sicher, meine Mutter verfolgt nur die besten Absichten, aber die verfolgte Iwan der Schreckliche wahrscheinlich auch nur. Am aufbauendsten fand ich da zumindest die Geschichte von dem Sohn einer ehemaligen Arbeitskollegin meiner Mutter, dem es nach einer Coronaerkrankung einfiel, anstatt sich auszuruhen, die Küche zu renovieren und tot zusammenbrach. Sowas würde mir garantiert nicht passieren.
„Ich rufe dich morgen wieder an“, drohte meine Mutter wie immer am Ende unseres Telefongesprächs. Eins war klar, solange ich Corona hatte, würde sie mich jeden Tag konsequent anrufen und fragen, wie es mir geht. Das war dann für mich ein großer Ansporn, ganz schnell wieder gesund zu werden.