Lesebühne Kreis mit Berg

Der Fleck in Venedig

Neulich war ich mit meiner katholischen Freundin in Venedig. Für eine Woche kein Corona, kein Krieg und keine Kommentare auf Facebook. Erst wenn über der Lagune ein Atompilz zu sehen gewesen wäre, hätte ich vielleicht doch mal tagesschau.de aufgerufen, um zu schauen, ob wir irgendwas Wichtiges verpaßt haben könnten, denn Urlaub sollte eine Mischung sein aus Eskapismus, Hedonismus und Alkoholismus.
Auf der Internetseite Fewo-direkt hatte meine Freundin eine Ferienwohnung auf Sant‘Elena gemietet, unweit des Giardini della Biennale. Nello, der Vermieter, der aber in Rom lebt, sendete uns die Schlüssel zu und außerdem drei Seiten in italienischem Englisch über den Gebrauch seiner Ferienwohnung, damit wir dort beim Wohnen nicht etwas falsch machen würden. Aber was sollte schon passieren? Im Wohnen waren wir geübt, dachten wir. Die Mehrzahl der insgesamt 22 Fotos, die Nello auf Fewo-direkt zu seiner Wohnung eingestellt hat, beschränkte sich allerdings eher darauf, die Schönheit Venedigs zu präsentieren als die Schönheit der Wohnung selbst. Diese war auf den Fotos auch nur in kleinen Ausschnitten erkennbar, aus denen wir schließen konnten, daß es zumindest ein Bett geben würde, zwei Klappstühle an einem schmalen Tisch, ein Klo mit Dusche, eine Küchenzeile mit zwei Kochplatten und ein Deckenventilator, der, nach den Ausmaßen zu urteilen, die er für sich beanspruchte, auch als Rotorflügel eines Kampfhubschraubers zu gebrauchen wäre. Die Ferienwohnung befand sich im Erdgeschoss, hatte schmale vergitterte Fenster und bestand genaugenommen nur aus einem Raum, von dem außerdem ein bißchen Bad abgeteilt worden war. Die Fotos der Wohnung waren insofern aussagekräftig, als das, was es auf ihnen nicht zu sehen gab, tatsächlich auch nicht vorhanden ist. Also kein Sessel, keine Couch; nur die Plasteklappstühle und das Bett konnten uns zum Ausruhen und Verweilen in unserer Ferienzelle dienen. Die im Übrigen recht feuchtfrisch anmutete, wie vermutlich alle Ferienwohnungen in dieser Jahreszeit, da der Italiener die Kälte weniger zu fürchten glaubt als die Hitze. Für den Fall, daß die Temperaturen doch mal sehr unangenehm werden sollten, hatte Nello für uns ein paar elektrische Geräte bereitgestellt, die die Wärmeleistung eines größeren Föhns besaßen. Was Nello jedoch in den fünf großen Hängeschränken untergebracht hatte, die sich an der Wand oberhalb der Eingangstür aneinanderreihten, konnten wir nicht herausfinden, weil sie mit Ketten und Vorhängeschlössern versperrt waren. Vielleicht die Silberleuchter einer venezianischen Tante oder, in mehreren Paketen fein säuberlich in Frischhaltefolie eingewickelt, die venezianische Tante? Das würde den leicht muffigen Geruch erklären. Aber für all das war dieses Zimmer in der Vorsaison doch einigermaßen erschwinglich.  

Kaum angekommen, streckten wir uns nun auf dem Bett aus und stießen mit einem Glas Rotwein auf unseren Urlaub an, und ja gewiss, die Ferienwohnung ist jetzt nicht die Krönung, aber wir waren in Venedig, wir waren von Schönheit umgeben, sobald wir auch nur den Fuß aus dieser Wohnung nach draußen taten, und in diesem Überschwang, gepaart mit der von uns abfallenden Anspannung der Anreise, passierte dann, beim vierten Glas Rotwein, was meiner Freundin seit Jahrzehnten, muß ich wohl sagen, passiert, obwohl man gar nicht genau weiß, wie es passiert, es passierte einfach, daß durch eine Handbewegung eben dieser meiner Freundin während des Gesprächs ein großer Schwapp aus ihrem Weinglas hinaus auf dem Bett landete und in die zwiebelartig, übereinandergelegten Schichten von Decken und Überzügen sickerte, die so ein italienisches Bett zu bieten hat. Da half kein Salz, kein Rubbeln, das einzige was geholfen hätte, wäre die gesamte Bettdeckenkonstruktion in die Dusche zu schmeißen und den Fleck, der matrjoschkaartig durch alle Decken hindurch sich zu mehreren Flecken längst multipliziert hatte, mit fließendem kaltem Wasser rauszuspülen, was zur Folge gehabt hätte, nun für die Nacht gar keine Decken mehr gehabt zu haben oder höchsten sehr nasse, die in dem kaltklammen Mikroklima des Ferienraumes bei meiner eh schon fröstelnden Freundin eine furchtbare grippale Verstimmung ausgelöst hätten. Wir beschränkten uns deshalb darauf, nur den Fleck des Rotweins einigermaßen zu trocknen, und schalteten zu diesem Zweck alle uns zur Verfügung stehenden, diversen Elektroheizgeräte italienischer Nationalität zur Erwärmung des Raumes ein, auf denen in weiser Vorrausicht geschrieben stand „only use in italy“, denn überall sonst auf der Welt wäre die Nutzung solcher Geräte sicher ein nicht zu verantwortendes Risiko gewesen.
Und in dem Moment wurde es auch schon dunkel. Wie wir der Anweisung Nellos hätten entnehmen können, wenn wir vorher zur Lektüre seiner Anweisungen bereit gewesen wären, dann hätten wir nun gewußt, warum ein paar eingeschaltete Geräte hier die Sicherungen knallen lassen wie den Korken eines Spumante und wo die Sicherungen überhaupt sind. Im Dunklen findet man die ja nicht so leicht. Mit der Taschenlampenfunktion des Handys lasen wir die ausgedruckten Anweisungen Nellos und erfuhren so, daß sich die Sicherungen außerhalb der Wohnung befanden, im Hausflur, in einem Kasten, wo alle Sicherungen des Hauses versammelt waren. Die Anweisungen Nellos zu ignorieren, zahlte sich also nicht aus, und war auch nur schwer hinzubekommen, weil in der ganzen Wohnung an den Wänden verteilt, in farbigen Bilderrahmen, in einer Mischung aus Wanddekoration und Ermahnung, auf Italienisch, Englisch und Deutsch Sätze zu lesen waren, wie zum Beispiel „Bei Verlassen der Wohnung Schlüssel nicht im Schloß stecken lassen!!“ oder „Beim Verlassen der Wohnung immer alle elektrischen Geräte ausstellen!!!“. Man konnte den Eindruck gewinnen, nicht in Italien Urlaub zu machen, sondern in Baden-Württemberg. Aber wie gesagt, außerhalb der Wohnung wurde Venedig sofort wieder schön, und das blieb es bis zum Ende unseres Urlaubs, und würde es auch bleiben, bis es irgendwann in den Fluten versinkt.
Kurz nach unserer Rückkehr stellte meine Freundin dann fest, daß Nello ihr per Mail ein Foto mit dem Rotweinfleck zugeschickt hatte.

Aber nicht nur das. Auch von Fewo-direkt bekam meine Freundin eine Mail, mit dem Wortlaut in der Betreffzeile: Sie haben eine Bewertung für Ihren Aufenthalt in Sant‘Elena erhalten. Tatsächlich ist es so - was uns aber erst jetzt zum ersten Mal bewußt wird, daß inzwischen auch Vermieter die Nutzer ihrer Ferienwohnungen bewerten können. Was mich auf die Idee bringt, daß es auf Amazon auch schön wäre, wenn nicht nur die Leser die Bücher von Autoren bewerten können, sondern auch die Autoren die Leser ihrer Bücher. Dem Leser mit dem Profilnamen „Peter Berg“ beispielsweise, der mir neulich mal aus völlig freien Stücken fünf Sterne auf Amazon für mein Halle Alphabet gegeben hat, könnte ich dann wiederum fünf Sterne verleihen für seinen guten Geschmack und seine elaborierte Urteilskraft, wozu ich ihn nur beglückwünschen kann. Meine Freundin wiederum erhielt von Nello eine Bewertung, die man einer Punkband gibt, nachdem sie auf dem Zimmer eine Drogenparty gefeiert hat. Nur einen Stern von fünf für Sauberkeit, einen Stern von fünf für Kommunikation, keinen Stern von fünf für Hausregel und zwei Sterne von fünf für den Gesamteindruck. Eine solche Bewertung entspricht ungefähr der Kreditwürdigkeit von Afghanistan oder dem Schufa-Eintrag von Boris Becker. Mit dieser Bewertung könnte man auf Fewo-direkt wahrscheinlich nicht mal mehr eine Abstellkammer in Bochum anmieten. Aber wenn man bedenkt, wo überall meine Freundin im Urlaub schon Rotweinflecken hinterlassen hat! So zieht sich eine Verwüstung durch Europa. Ich erinnere an den Sofabezug in Palermo, das Laken in Palma, die Tischdecke in Padua, die Küchenbank in St. Petersburg, die Auslegware in Berlin Heinersdorf, der Kissenbezug in Paris, das Bocksspringbett in Ahrenshoop, die Ledergarnitur in Lissabon, die Tagesdecke in Verona, der Sessel in Syrakus, der Teppich in Toledo und last, but not least, das Fleckengemetzel von Venedig.
Vielleicht sollten wir lieber auf Weißwein umsteigen.