Lesebühne Kreis mit Berg

True Crime

Ich weiß nicht genau, wann es begonnen hat. Vielleicht mit Corona, als man sich in die traute Gemütlichkeit der eigenen Wohnung zurückzog. Ungefähr seitdem jedenfalls hört meine katholische Freundin sehr gern zur Entspannung einen Podcast mit Fallbeschreibungen von ganz besonders gräßlichen Gewaltverbrechen. Könnte es sein, daß ich mit einer Psychopatin zusammen bin?
Jede Folge des Podcasts geht ungefähr so vor sich: Jemand erzählt lang und breit in einem sehr drögen Tonfall von nackten und entstellten Leichen. Wahrscheinlich macht diese Kombination genau den Reiz dieses Podcasts aus. Maximaler Schrecken kombiniert mit maximaler Langeweile. Eine Kontrasterfahrung wie Ente süß sauer oder Dostojewski, nacherzählt von Mike Krüger. Alles wird liebevoll detailliert beschrieben. Fundort, wie so oft, der gute alte deutsche Wald. Könnten die Opfer ihren Mördern bitte mal vorher klar machen, daß es unkreativ ist, ständig solche Krimiklischees zu reproduzieren? Tatwaffe, entweder ein spitzer oder ein stumpfer Gegenstand. Was immer ein stumpfer Gegenstand ist: Bügeleisen, Suppenkelle, Schmuckkeramik? Und dann kommt ein anhand der Verletzungen rekonstruierter Tathergang, den man eigentlich nicht unbedingt wissen möchte. Aber das Beste daran, der oder die Täter sind noch nicht gefaßt worden. Sie wären also in der Lage, jederzeit wieder zuschlagen. Hinweise bitte an die Polizei, falls ihr Nachbar seltsame Sägegeräusche erzeugt.
Dieser Podcast ist für meine Freundin nach der Arbeit so erholsam, daß sie dabei auf dem Sofa selig einnickt. Womit mal wieder auf erschreckende Weise demonstriert wird, was Arbeit aus den Menschen macht. Während mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft, sobald ich das Wohnzimmer betrete und es nicht verhindern kann, daß Brocken des Podcasts aus den Boxen ihres Notebooks in mein Ohr gelangen. Kenne ich die Frau denn tatsächlich, die hier nun so süß vor sich hin schnarchelt?
Ich versuche, es mir umgekehrt vorzustellen. Möchte meine Freundin wirklich mit einem Mann zusammenleben, der sich zur Abendunterhaltung Sätze anhört wie: „An der vollständig entkleideten Frau fanden sich zahlreiche Blutergüsse und Würgemale, doch erst die klaffende Wunde am Kopf, die offenbar von einem stumpfen Gegenstand verursacht worden ist, konnte als finale Todesursache festgestellt werden.“ Also ich würde an ihrer Stelle sehr schnell das Weite suchen.

Was man auf den ersten Blick nicht vermuten würde, im Gegensatz zu ihr bin ich eine zartbesaitete Person. Für mich ist es schon true crime genug, wenn ich mit meiner Freundin im Sommer in den Urlaub fliegen muß. Schon Wochen vorher male ich mir den Horror aus, was passiert, wenn dabei unsere Koffer verloren gehen.
Früher, in der DDR, ging man davon aus, daß es keine Verbrechen mehr geben würde, sobald die Klassenunterschiede überwunden sind. Ähnlich wie in der Paradiesvorstellung der Zeugen Jehovas Löwe und Lamm friedlich auf einer Wiese sitzen, ruhten Proletarier und Proletarierin traulich beieinander und nirgends ein Jack the Ripper in Sicht, der sie aufschlitzen möchte. Es gab dann in der DDR solche Fälle tatsächlich nicht. Vor allem deshalb, weil man sie verheimlicht hat. Erst ab den achtziger Jahren gab es auch im Osten true crime. Das nannte sich „echte Kriminalfälle“ und erschien in Buchform. Im guten Buch waren solche Tatsachenberichte der Renner, mit Titeln wie „Die Tote an der Waisenhausmauer“ oder „Der Hammermörder von Knölpzig“. Der Unterschied: die Fälle waren zum Glück schon aufgeklärt. Die Täter dingfest. Der Bürger durfte beruhigt sein. Anders als bei Aktenzeichen XY, das wir uns im Westfernsehen gespannt und mit wohligem Grusel ansahen. Das war der einzige Moment, in dem meine Oma die Mauer mal gut fand. Der antikriminelle Schutzwall bewahrte uns vor den Westverbrechern, die dort in die Wohnzimmer einstiegen, wovon es sogar Filmaufnahmen gab; erst später ging mir auf, daß die Szenen bloß nachgestellt waren. Nach dem Fall der Mauer sahen wir uns plötzlich mit der Situation konfrontiert, daß diese ganzen Westverbrecher nun zu uns herüberkamen und es sich, wie mein Vater es formulierte, in den Chefsesseln bequem machten. Alles Gauner die!
Dem ganzen Crime, der nicht true ist, sondern von Autoren ausgedacht, kann ich allerdings auch nicht viel abgewinnen. Ich gucke mit meiner Freundin am Sonntag höchstens Tatort. Vorher haben wir gekocht, viel gegessen und schon mehrere Gläser Rotwein intus, in diesem Zustand wären auch die Teletubbies blanke Action für mich. Geistig durch einen Berg Spagetti Bolognese praktisch vollsediert, durchdöse ich die Handlung bis Anne Will. Mörder ist am Ende immer der, bei dem sich der Drehbuchautor sehr viel Mühe gegeben hat, daß er zu Beginn total nett und harmlos erscheint. Das kriege sogar ich noch mit. Keine Überforderung des Zuschauers und wenig Ambitionen in der künstlerischen Umsetzung, das alles macht die Qualität eines Tatorts aus.
Wahrscheinlich muß ich am Ende einfach damit klarkommen, daß meine Freundin am besten bei den schlimmsten Verbrechen entspannen kann. Und ich sollte es auch mal positiv sehen. Seit fast 22 Jahren Beziehung mit ihr bin ich ja immer noch nicht kaltblütig ermordet worden, obwohl ich ständig Kolumnen über sie schreibe.